Nachruf
Von Karin Steinbach
Tod eines Ausnahmebergsteigers
Mit Ueli Steck verliert der Alpinismus einen seiner innovativsten Vertreter – und einen aussergewöhnlichen Menschen
Tod eines Ausnahmebergsteigers
Mit Ueli Steck verliert der Alpinismus einen seiner innovativsten Vertreter – und einen aussergewöhnlichen Menschen
Die Nachricht von Ueli Stecks tödlichem Absturz im Himalaja machte am Sonntag nicht nur die internationale Bergsteigerszene, sondern einen grossen Teil der Schweizer Bevölkerung betroffen. Dank seiner medialen Präsenz war der 40-jährige Alpinist, der in den vergangenen zehn Jahren immer wieder mit aussergewöhnlichen Leistungen auf sich aufmerksam machte, einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Seit den Geschwindigkeitsrekorden durch die Eiger-Nordwand – zuletzt durchkletterte er sie im November 2015 in 2 Stunden und 23 Minuten – hatte sich Fernsehzuschauern und Besuchern seiner Vorträge ein charakteristisches Bild eingeprägt: der drahtige Athlet in leichter Bekleidung und mit kleinem Rucksack, der, auf zwei Eisgeräte gestützt, in unvorstellbarem Tempo eine Eiswand hinaufsprintet. Es trug ihm unter Bergsteigern den Übernamen «Swiss Machine» ein.
Leben im Laufschritt Ueli Steck, 1976 in Langnau im Emmental geboren, begann mit zwölf Jahren mit dem Klettern, mit achtzehn durchstieg er erstmals die Eiger-Nordwand. Nach Wiederholungen alpiner Klassiker, auch im Winter oder im Alleingang, begann er selbst neue Routen zu erschliessen; auch in Alaska sowie an den Siebentausendern Pumori in Nepal und Gasherbrum II in Pakistan gelangen ihm Erstbegehungen. Seinen «bürgerlichen» Beruf stellte der gelernte Zimmermann mehr und mehr zurück und lebte schon bald vom professionellen Bergsteigen allein. 2004 wurde die alpine Szene durch eine seilfreie Solo-Begehung der Route «Excalibur» in den Wendenstöcken auf Steck aufmerksam. Im Jahr darauf stieg er erstmals solo durch die Eiger-Nordwand, zudem machte er auch im Himalaja Erfahrungen mit Alleinbegehungen. Aus der Erkenntnis heraus, solo am schnellsten und effizientesten unterwegs zu sein und dadurch die Zeit, in der er sich in Gefahrenbereichen aufhielt, minimieren zu können, arbeitete er intensiv an seiner Technik und Ausdauer. 2008 wurde er mit dem ersten, spektakulären Speed-Rekord in der Eiger-Nordwand – er kletterte die Heckmair-Route in 2 Stunden und 47 Minuten – auch international bekannt. In der Folge durchstieg er im selben Stil die Nordwände von Grandes Jorasses und Matterhorn, diesmal auf ihm zuvor unbekannten Routen. Neben seiner Leistungsfähigkeit war es vor allem die alpinistische Vielseitigkeit, die Ueli Steck ausmachte. So gelang ihm gemeinsam mit dem Zermatter Bergführer Simon Anthamatten eine Neutour am nepalesischen Sechstausender Teng Kampoche, für die beide mit dem Piolet d’Or, dem «Oscar des Alpinismus», ausgezeichnet wurden. 2009 bestieg er mit dem Gasherbrum II und dem Makalu seine ersten Achttausender. Danach verfolgte er konsequent das Ziel, die Effizienz des Speed-Kletterns in den Himalaja zu übertragen, wo Geschwindigkeit einen Sicherheitsgewinn bedeutet, weil man sich weniger lang in lebensbedrohlicher Höhe bewegt. 2011 durchkletterte er die Shisha-Pangma-Südwand und erreichte erstmals über eine technisch anspruchsvolle Route den Gipfel eines Achttausenders im Alleingang. Im Jahr darauf war er am Mount Everest auf der Normalroute von Süden erfolgreich. Wie an allen seinen Achttausendern benutzte er keinen künstlichen Sauerstoff, den er als Doping ablehnte. Er wollte einem Berg so einfach wie möglich entgegentreten, weil dann das Erlebnis am intensivsten sei. Zudem war er der Überzeugung, dass dort, wo der Alpinismus sich weiterentwickle, in schwierigen Routen an hohen Gipfeln, Sauerstoffflaschen sowieso nicht einsetzbar seien, weil das zusätzliche Gewicht es verunmögliche, in steilem Gelände zu klettern. Wendepunkt Annapurna 2013 reiste Ueli Steck zum Achttausender Annapurna, um die Südwand auf einer neuen Direktroute zu durchklettern. 2007 hatte er einen ersten Versuch nur knapp überlebt, als er, von einem Stein getroffen, 200 Meter abgestürzt war. Ein Jahr später brach er einen zweiten Anlauf zugunsten einer Rettungsaktion für einen spanischen Bergsteiger ab. Im dritten Anlauf gelang ihm schliesslich ein 28-stündiger Alleingang in absoluter Exponiertheit – jeder Schritt musste perfekt sein. Diese Leistung war derart weit entfernt von herkömmlichen Massstäben, dass sie, auch weil Steck seine Kamera verlor und keine Beweise vorlegen konnte, von manchen angezweifelt wurde. Trotzdem erhielt er dafür einen zweiten Piolet d’Or. Die Erkenntnis, dass er bei diesem Alleingang ein zu hohes Risiko eingegangen war und mit seinem Leben praktisch abgeschlossen hatte, stürzte den sonst mental so stabilen Sportler in eine ernsthafte Krise und führte zu der Einsicht, dass er in Zukunft sein Potenzial nicht mehr derart ausreizen dürfe. Steck, der sich selbst als «Leistungs- und Kontrollfreak» bezeichnete, beschloss, zukünftige Expeditionen wieder mit einem Partner anzugehen, Biwaks einzuplanen oder kürzere Wände zu wählen – sich des Risikos zu jedem Zeitpunkt bewusst zu sein und es auch im Griff zu behalten. Visionäres Projekt Die Überschreitung von Everest und Lhotse, für die er Anfang April in den Himalaja aufbrach, war ein lang gehegter Wunsch Ueli Stecks. Bereits 2013 hatte er dieses Ziel verfolgt, als eine tätliche Auseinandersetzung mit Sherpas zum Abbruch der Expedition führte. Die für den Mai geplante Besteigung des Mount Everest über das Hornbeincouloir, der anschliessende Abstieg über den Grat in den Südsattel und der erneute Aufstieg zum Lhotse wurden als Überschreitung in einem Zug noch nie ausgeführt. Für ihn bedeutete diese persönliche Herausforderung auch eine Weiterentwicklung des Alpinismus: «Ich bin mit den Jahren zielgerichteter geworden, habe klarere Ideen, was ich will. Für mich muss das Bergsteigen ein Prozess sein.» Als Steck am Sonntag am Nuptse mehr als 1000 Meter in den Tod stürzte, befand er sich noch auf einer vorbereitenden Akklimatisierungstour. Weil sich sein Expeditionspartner, der nepalesische Kletterer Tenji Sherpa, Erfrierungen zugezogen hatte, unternahm er diese allein. Seine zurückhaltende Art wurde Ueli Steck von manchen Kritikern als Arroganz ausgelegt, und nicht jeder konnte seine extreme Leistungsorientierung und seinen Ehrgeiz nachvollziehen – oder auch seine Leidensfähigkeit beim Training. Doch Starallüren lagen dem sympathischen Berner, der in Ringgenberg lebte, fern. Wer ihn näher kannte, machte die Erfahrung, dass er sich niemals über andere stellte, sondern die Fähigkeit hatte, seine Gesprächspartner dort abzuholen, wo sie standen. Für ihn gab es, neben dem Verfolgen seiner eigenen Ziele, nichts Schöneres, als gemeinsam mit seiner Frau Nicole oder mit Freunden Touren in den heimischen Bergen zu unternehmen. Die 62-tägige Traverse, die ihn im Sommer 2015 auf alle 82 Viertausender der Alpen geführt hatte, bezeichnete er als eines seiner schönsten Projekte. Das Risiko akzeptieren Zur Vorbereitung der Everest-Lhotse-Überschreitung war Steck bereits im Februar ein erstes Mal nach Nepal gereist. Innerhalb von zwölf Tagen hatte er ein Laufpensum von 250 Kilometern und 15 000 Höhenmetern zurückgelegt, immer in Höhen zwischen 4700 und 6000 Metern – auch dies ein innovativer Ansatz im Training. Vor dem Abflug betonte er in einem letzten Gespräch am Flughafen Zürich, dass er noch immer glücklich sei, sobald er sich in den Bergen bewege, weil er sich dort seine Herausforderungen suchen und sie finden könne. «Ich akzeptiere das Risiko, das damit verbunden ist, weil das, was ich zurückbekomme, für mich mehr zählt. Ich wäre nicht zufrieden, wenn ich nicht bergsteigen könnte.» Die Frage, ob diese Begeisterung auch nach zwanzig Jahren im Geschäft noch dieselbe sei, beantwortete er mit einem überzeugten Ja. Er sei sich in den letzten Jahren bewusst geworden, dass er das Bergsteigen ausschliesslich für sich selbst betreibe. «Was die Öffentlichkeit dazu sagt, ist für mich zweitrangig. Ich mache das für mich, weil es mich interessiert und weil es mir Spass macht. Denn irgendwann ist das Leben hier vorbei.» Dass dieses «Irgendwann» so schnell eintreffen würde, hat niemand erwartet. Viele Menschen in der ganzen Welt trauern um Ueli Steck, den Bergsteiger. Aber auch um einen feinen Menschen. Karin Steinbach Tarnutzer ist freie Journalistin. Als Koautorin seiner letzten drei Bücher arbeitete sie eng mit Ueli Steck zusammen. |